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Karl Heinz Haag, Kritische Theorie und das Erbe der Metaphysik

Karl Heinz Haag (1924-2011) war seit den frühen 50er Jahren im Philosophischen Seminar der Universität Frankfurt wie in dem aus dem Exil zurückgekehrten Institut für Sozialforschung einer der engsten Mitarbeiter von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Seine Lehrveranstaltungen vermittelten ganzen Generationen von Studierenden diejenigen philosophiegeschichtlichen Kenntnisse, die damals für ein Philosophiestudium wie auch ein kritisches Studium der Soziologie unabdingbar waren. Bis zum Wintersemester 1970/71 kündigte Haag regelmäßig gemeinsame Lehrveranstaltungen mit Max Horkheimer an – an denen Horkheimer, der bereits seit Jahren in Montagnola lebte, zuletzt allerdings eher unregelmäßig teilnahm.

Mit der von einer technokratischen Studienreform veranlassten Neugründung des Fachbereichs Philosophie gab Haag seine Professur auf und widmete sich ganz der philosophischen Forschung. Die Distanz zu den Pflichten des Lehrbetriebs sollte ihm Gelegenheit verschaffen, sich Grundlagenproblemen der Kritischen Theorie zuzuwenden und deren philosophische Voraussetzungen ohne Rücksicht auf didaktische Zwänge und die Erwartungen des akademischen Publikums durchdenken zu können.

Charakteristisch für sein Vorhaben war die Absicht, Begründungsaporien nicht durch einen Wechsel der Theoriesprache, etwa eines „linguistic turn“, zu umschiffen. Nicht nachmetaphysisches Denken, sondern „Metaphysik als rationale Weltauffassung“ lautete unzeitgemäß sein selbstgestellter philosophischer Anspruch.

Haag zufolge lässt sich philosophisch nur dann rational denken, wenn man metaphysische Fragen nicht einfach sinnkritisch eliminiert, sondern ernst nimmt. Er entfaltet seine Argumentation in Richtung auf eine „negative Metaphysik“, indem er – belehrt durch die philosophische Tradition – dem Status naturwissenschaftlicher Erkenntnis nachgeht. Die wissenschaftliche Methode, so seine Folgerung, erschließt mit ihren Experimenten nicht die inneren Gesetze der werdenden Natur. Damit ein Naturding entsteht, ist – so der geschulte Metaphysiker – das zweckmäßige Zusammenwirken stofflicher Prozesse und der diese Stoffe regierenden Naturgesetze notwendig. Es braucht ein Prinzip, das sie auf ein Ganzes hin anordnet, und dieses Prinzip lässt sich nicht selbst als Naturgesetz fixieren und per Experiment demonstrieren. Es gehört einer physikalisch nicht zugänglichen Dimension der Natur an, aber ohne diese Dimension Natur zu denken, ist unvernünftig, irrational. Es ist demnach vernunftwidrig, roher Materie das Vermögen zuzusprechen, sich selbst zu differenziertem Leben zu entfalten. So argumentiert Karl Heinz Haag unter Berufung auf Immanuel Kant.

Kann etwas Sein beanspruchen, dem alle sinnlichen Qualitäten abgehen? Macht der Begriff des Wesens noch Sinn? Haag weiß um das Ungenügen der traditionellen, affirmativen Metaphysik und postuliert an ihrer Stelle eine negative. Diese ist unverzichtbar, um Natur als Ganzes zu verstehen. Ontologie als philosophiegeschichtlich überwundenes Denken insgesamt zu verabschieden, wie es manche Formulierung der Kritischen Theorie nahelegt, fällt Haag daher nicht ein.

Haag sieht die Kritische Theorie in einer Aporie gefangen, geben Horkheimer und Adorno doch die von der Aufklärung freigesetzte Vernunft als mit instrumenteller Rationalität restlos identisch aus. Zugleich rekurriert die Kritische Theorie auf eine Vernunft, die dieser Gleichsetzung enthoben ist. Horkheimer und Adorno verlangen aufgeklärter Rationalität eine Selbstkritik ab, zu der sie die Rationalität als unvermögend erklären.

Eine Begründungslücke tut sich damit auf, die sich auch mit den Finessen einer Hegelschen Dialektik nicht schließen lässt. Haag schlägt hier mit der Idee einer negativen Metaphysik einen Ausweg vor, dessen Tragfähigkeit zu diskutieren wäre.

Die Selbstgenügsamkeit innerakademischer Debatten ist dabei Haags Sache nicht. Seine Metaphysik zielt auf eine Veränderung der Gesellschaft. Er zeigt, wie sehr eine als wesenlos ausgegebene Natur Passform aufweist für eine Ökonomie, die die äußere und die menschliche Natur für bloßen Rohstoff der Kapitalverwertung ansieht. Sie sei damit zur „Brandschatzung“ freigegeben. Natur als wesenhaft zu begreifen, ist für Haag von höchster Wichtigkeit nicht nur für das Schicksal der Philosophie, sondern hat intensivste Bedeutung…für das Schicksal der Menschheit, heißt es in seinem letzten Buch.

Das geplante Symposium anlässlich von Haags hundertstem Geburtstag gilt dem Versuch, das Werk eines aus dem Gegenwartshorizont der Philosophie weitgehend verschwundenen Kritischen Theoretikers zu vergegenwärtigen, dessen Denken sich in seiner Radikalität und Insistenz von dem seiner repräsentativen Zeitgenossen auf weite Strecken entfernt hat. Dieses Denken in aktuelle Zusammenhänge zu stellen und dabei zu prüfen, ob eine mit der ökologischen Krise befasste Debatte sich von einer unbeirrten philosophischen Reflexion befruchten lassen kann, scheint uns ganz im Sinne Haags zu sein. Denn von aktuellen Moden und Denktabus ließ der sich nicht imponieren.