Karl Heinz Haag: Kritische Philosophie

Karl Heinz Haag vernichtete seine Vorlesungsskripte, damit sie nicht als Nachlass von seiner eigentlichen Intention“ ablenkten (G. Mensching im Nachwort). Diese Intention, die Haag  gegenüber Mensching erwähnt, spricht er nicht aus. Sie muss seinem Werk abgewonnen werden. Der Band Kritische Philosophie greift den Titel von Max Horkheimers programmatischem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie[1] von 1937 auf. Er vereint Texte Haags von 1960 bis 1971. Er beginnt mit einem Text zu „Kritik der neueren Ontologie“. Die Spielarten der Ontologie (Lehre vom Sein) sind historisch bedingt. Die Absage an die universalistische Metaphysik „entsprach den sich radikal verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen, der völligen Auflösung des mittelalterlichen Universalismus“. (S. 25). Erst Hegel gelingt die Auflösung der bis dahin unauflösbaren Antinomie zwischen Universalismus und Nominalismus (S. 43). Weitere Aufsätze befassen sich mit der Scholastik und Neuscholastik. In Metaphysik als System der Ontologie führt Haag die Theorie von C. Link aus, bei dem er an der theologischen Hochschule St. Georgen (Frankfurt am Main) studiert hatte. Zu Haags Hegelkritik enthält der Band mehrere Aufsätze, z.B. Hegels idealistische Dialektik dort spricht Haag von der „Selbsttäuschung der Dialektik, S. 137. Ein weiterer Text: Die Dialektik des Seins bei Hegel, mit kritischen Exkursen zu Heidegger.

Im Beitrag Sein und Seiendes gibt Haag Heideggers ontologische Argumentation wider und zerpflückt sie sogleich.  Diese immanente Kritik ist ungewöhnlich für die kritische Theorie, die sich sonst damit begnügt, Ontologie als Ontologie zu verwerfen, da sie das schlechte Bestehende, so wie es sei, als undialektisch verwirft. Haag sieht hier in Hegels Philosophie noch die Lösung des Problems von Universalismus und Nominalismus: Hegel, der „Begriff und Realität <zusammennimmt> (…), hat „mehr für zur Aufhellung von Sein getan als die Ontologie.“ (S. 88) Auch Haag nennt die Ontologie eine „ideologische Stütze der Herrschaft eines Besonderen (einer jeweiligen Herrschaftsform, D.M.)“. (S. 89) und kommt zu dem Schluss: „(Die Fundamentalontologie) dient (…) objektiv der Negation der Menschlichkeit.“ (S. 93)

In dem Aufsatz Das Unwiederholbare (1963) erklärt Haag noch einmal die Problematik von Universalismus und Realismus. Beides sind Irrwege, da sie das „dynamische Moment im Kern der Wahrheit“ (S. 104) nicht wirklich ernst nehmen. Dieses Moment thematisiere erst Hegels Dialektik. In der Genesis menschlicher Erkenntnis, die zur Dialektik führt, erscheint das Unwiederholbare als das, im Rückblick, „verlorene Paradies“ vor der Scheidung von Besonderem und Allgemeinen (S. 106). Nach diesem philosophischen Sündenfall führe kein Weg an der Vermitteltheit beider Pole der Erkenntnis vorbei. „Schweigen muss, wer reine Unmittelbarkeit haben will. Die jüdische Religion, der es gegenüber den antiken Mythen um die Einzigkeit Gottes ging, versuchte sie zu retten mit dem Verbot, Gott einen Namen zu geben. Das Geheimnis ihres Erfolgs lag darin, dass sie wusste: jeder Name relativiert die Einzigkeit Gottes auf menschliches Denken und seine allgemeinen Begriffe. Sie durch einen Eigennamen zu bezeichnen, wäre sinnlos. Er vermöchte nicht auszudrücken, was in ihm intendiert ist. Das Unwiederholbare stellt sich dar als das eine Besondere, das keinem Allgemeinen subsumierbar ist, oder vielmehr als das, was entschwindet, wenn es unter Allgemeines gefasst wird.“ (S. 107) Haag greift hier ein unterschwelliges, selten genanntes Motiv der Kritischen Theorie auf: Das jüdische Bilderverbot und das Verbot, Gott durch Namensgebung zu verdinglichen. In dem Aufsatz Die Lehre vom Sein in der modernen Philosophie verknüpft Haag seinen Ansatz mit der Theologie von Paul Tillich, Karl Barth und der seines Lehrers Caspar Link.

Dieter Maier

Karl Heinz Haag: Kritische Philosophie : Abhandlungen und Aufsätze. Mit einem Nachwort von Günther Mensching. Edition Text und Kritik im Richard Boorberg Verlag, 2012


[1] Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. VI, 1937, Heft 2