Schriften Haags (ein Überblick)

Haag, Karl Heinz: Der Fortschritt in der Philosophie. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1983, 204 S.

Karl Heinz Haag befasst sich in Der Fortschritt in der Philosophie mit dem philosophischen Grundproblem „von der Antike bis in die Gegenwart“, dem „Problem der objektiven Möglichkeit von erscheinender Natur, der metaphysischen Grundlage der Phänomene, die Gegenstand menschlicher Erkenntnis sein können.“ (S. 9). Wir gelangen zur den Dingen nur kraft unserer Sinne und unseres Verstandes, wie sie „an sich“ sind, können wir nicht wissen.

Haag arbeitete von 1971 bis 1982 an diesem gedrängten, streng systematisch argumentierenden Text von 202 Seiten. Er beginnt bei der Philosophie der griechischen Antike, von der er zeigt, dass der abstrahierende Aufstieg vom konkret Seienden (den erscheinenden Dingen) zum absoluten, reinen Sein eine imitatorische Verdoppelung ist, die die Dinge selbst aus dem Blick verliert. Dasselbe Argument wendet er auf die mittelalterliche Scholastik an. Auch die Philosophie von Descartes leitet Gewissheit aus einem höchsten Punkt, dem sum cogitans (dem denkenden Ich)  ab, das das reine Sein der philosophischen Tradition von der Subjektseite her ablöst, aber ebenfalls die Welt der Dinge verfehlt. Der Autor unterzieht dann Kant und Hegel seiner kritischen Methode: Kant weiß immerhin noch von dem „Ding an sich“, das sich in der Erkenntnis seitens der Subjekte nicht auflöst; Hegel zieht diese Differenz in seiner dialektischen Ontologie wieder ein. Haag geht noch auf Marx und Engels, die Phänomenologie und den Positivismus ein. Er variiert beim Durchgang durch die „Knotenpunkte der Philosophie“ (S. 202) sein Argument: „Einzig wenn es Dinge gibt, die ein Ansichsein besitzen, kann etwas erkannt werden.“ (S. 55) Da wir über dieses Postulat des Ansichseins von Natur keine inhaltlichen Aussagen treffen können und die Natur sich nicht selbst ihre Gesetze geben kann, folgert Haag: „Menschliche Vernunft (…) kann durch die Unmöglichkeit einer Selbstkonstitution der Natur einzig die Notwendigkeit einer allmächtigen denkenden Entität als Urgrund der Dinge dartun. Das heißt aber: Metaphysik ist nur als negative Metaphysik möglich.“ (S. 72).  

Das „leitende Interesse“ des Buches ist die „Überzeugung, dass einzig Aufklärung des Gewesenen eine Zukunft ermöglichen kann, in der freie Menschen leben.“ (S. 201) „Affirmative Metaphysik“, also die Hypostasierung eines höchsten Seins, die die Welt so belassen will, wie sie nun einmal ist, bedeutet Unfreiheit.

Dieter Maier

Karl Heinz Haag: Kritische Philosophie

Karl Heinz Haag vernichtete seine Vorlesungsskripte, damit sie nicht als Nachlass von seiner „eigentlichen Intention“ ablenkten (G. Mensching im Nachwort). Diese Intention, die Haag  gegenüber Mensching erwähnt, spricht er nicht aus. Sie muss seinem Werk abgewonnen werden. Der Band Kritische Philosophie greift den Titel von Max Horkheimers programmatischem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie[1] von 1937 auf. Er vereint Texte Haags von 1960 bis 1971. Er beginnt mit einem Text zu „Kritik der neueren Ontologie“. Die Spielarten der Ontologie (Lehre vom Sein) sind historisch bedingt. Die Absage an die universalistische Metaphysik „entsprach den sich radikal verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen, der völligen Auflösung des mittelalterlichen Universalismus“. (S. 25). Erst Hegel gelingt die Auflösung der bis dahin unauflösbaren Antinomie zwischen Universalismus und Nominalismus (S. 43). Weitere Aufsätze befassen sich mit der Scholastik und Neuscholastik. In Metaphysik als System der Ontologie führt Haag die Theorie von Caspar Nink SJ aus, bei dem er an der theologischen Hochschule Sankt Georgen (Frankfurt am Main) studiert hatte. Zu Haags Hegelkritik enthält der Band mehrere Aufsätze, z.B. Hegels idealistische Dialektik, dort: „Selbsttäuschung der Dialektik, S. 137, und Die Dialektik des Seins bei Hegel, mit kritischen Exkursen zu Heidegger.

Im Beitrag Sein und Seiendes gibt Haag Heideggers ontologische Argumentation wieder und zerpflückt sie sogleich. Diese immanente Kritik ist ungewöhnlich für die kritische Theorie, die sich sonst damit begnügt, Ontologie als Ontologie zu verwerfen, da diese das schlechte Bestehende, so wie es ist, bestätigt. In Sein und Seiendes sieht Haag in Hegels Philosophie noch die Lösung des Problems von Universalismus und Nominalismus: Hegel, der „Begriff und Realität <zusammennimmt> (…), hat mehr für zur Aufhellung von Sein getan als die Ontologie.“ (S. 88) Auch Haag nennt die Ontologie eine „ideologische Stütze der Herrschaft eines Besonderen (einer jeweiligen Herrschaftsform, D.M.)“. (S. 89) und kommt zu dem Schluss: „(Die Fundamentalontologie) dient (…) objektiv der Negation der Menschlichkeit.“ (S. 93)

In dem Aufsatz Das Unwiederholbare (1963) erklärt Haag noch einmal die Problematik von Universalismus und Realismus. Beides sind Irrwege, da sie das „dynamische Moment im Kern der Wahrheit“ (S. 104) nicht wirklich ernst nehmen. Dieses Moment thematisiert erst Hegels Dialektik. In der Genesis menschlicher Erkenntnis, die zur Dialektik führt, erscheint das Unwiederholbare als das, im Rückblick, „verlorene Paradies“ vor der Scheidung von Besonderem und Allgemeinen (S. 106). Nach diesem philosophischen Sündenfall führt kein Weg an der Vermitteltheit beider Pole der Erkenntnis vorbei. „Schweigen muss, wer reine Unmittelbarkeit haben will. Die jüdische Religion, der es gegenüber den antiken Mythen um die Einzigkeit Gottes ging, versuchte sie zu retten mit dem Verbot, Gott einen Namen zu geben. Das Geheimnis ihres Erfolgs lag darin, dass sie wusste: jeder Name relativiert die Einzigkeit Gottes auf menschliches Denken und seine allgemeinen Begriffe. Sie durch einen Eigennamen zu bezeichnen, wäre sinnlos. Er vermöchte nicht auszudrücken, was in ihm intendiert ist. Das Unwiederholbare stellt sich dar als das eine Besondere, das keinem Allgemeinen subsummierbar ist, oder vielmehr als das, was entschwindet, wenn es unter Allgemeines gefasst wird.“ (S. 107) Haag greift hier ein unterschwelliges, selten genanntes Motiv der Kritischen Theorie auf: Das jüdische Bilderverbot und das Verbot, Gott durch Namensgebung zu verdinglichen. In dem Aufsatz Die Lehre vom Sein in der modernen Philosophie verknüpft Haag seinen Ansatz mit der Theologie von Paul Tillich, Karl Barth und der seines Lehrers Caspar Nink.

Dieter Maier

Karl Heinz Haag: Kritische Philosophie : Abhandlungen und Aufsätze. Mit einem Nachwort von Günther Mensching. Edition Text und Kritik im Richard Boorberg Verlag, 2012


[1] Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, Zeitschrift für Sozialforschung, Jg VI, 1937, Heft 2

Fabian Kettner

Karl-Heinz Haag: Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung

Die Philosophie bei der Arbeit
Das langerwartete neue Buch von Karl Heinz Haag ist erschienen

Vorbemerkungen

„Du sollst dir kein Bild machen“ heißt: du kannst nichts über das Absolute aussagen. Insofern steht auch am Anfang der kritischen Theorie sowohl das jüdische Verbot als auch die Kantsche Aufzeigung der Grenzen des Vernunft-Denkens. Gibt es eine Erfahrung im nicht-wissenschaftlichen Sinn, das heißt eine Erfahrung, die sich nicht empirisch verifizieren läßt? […] In einer bestimmten historischen Situation vermag ich mit einigem Anspruch auf Wahrheit [zu] behaupten: Mord ist schlecht, Folter ist schlecht, aber ich kann nicht sagen: den Mord unterlassen ist gut. Und selbst die Aussage, was schlecht sei, setzt logisch eine letzte Autorität voraus, die es verbietet. […] Wahrscheinlich liegt der kritischen Theorie trotz ihrem Verzicht, die Wahrheit auszusprechen, ein Paradox zugrunde: sie weiß, daß es keinen Gott gibt, und doch glaubt sie an ihn.
Max Horkheimer (GS 14, S. 507f.)

Ohne den Glauben an Gott trägt jede Freundlichkeit gegen einen anderen den Stempel der Sinnlosigkeit. Ohne den Glauben an Gott hat der Begriff der Wahrheit keinen Sinn. Adorno geht so weit zu sagen, daß ohne einen Gott das Denken sinnlos ist. Bei diesen Überlegungen fängt das Denken an: Alles andere ist längst bekannt oder ohne Interesse. Ohne Glauben an Gott fallen die Menschen als Menschen hinter das Mittelalter zurück.
Max Horkheimer (GS 14, S. 369)

Ohne die Gegenwart der letzten Stufe [i.e. des „absoluten Bewußtseins“, F.K.] wäre der Mensch so wenig einer Bewußtseinsregung fähig wie ohne die Gegenwart Gottes eines Atemzuges. Dieser Satz, schon an dieser Stelle, ist heute schockierend. Ihn nicht auszusprechen, wäre gleichbedeutend mit der völligen Verachtung des Lesers. Es wäre so, als wenn man mit jemand spräche, ohne den Sinn des ganzen Satzes zu konzipieren, sondern die Wörter auf gut Glück einzeln aus dem Munde purzeln ließe.
Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, S. 9

Karl Heinz Haag hat nie viel geschrieben. Dies gilt sowohl für die Anzahl seiner Veröffentlichungen wie für deren Seitenumfang. 1924 geboren studierte er an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen v.a. scholastische Philosophie, promovierte 1951 aber bei Max Horkheimer mit einer Arbeit über Die Seinsdialektik bei Hegel und in der scholastischen Philosophie. Adorno widmete ihm seine Drei Studien zu Hegel. Haag habilitierte in Frankfurt/M 1956 mit einer sehr guten Heidegger-Kritik, die 1960 unter dem Titel Zur Kritik der neueren Ontologie (95 Seiten) erschien. 1967 folgte der Hegel-Kommentar Philosophischer Idealismus (67 Seiten), 1971 der schmale Traktat Zur Dialektik von Glauben und Wissen (14 Seiten). Dann blieb es lange still. „Tausend Seiten kann ein jeder schreiben“, soll er, so ein Freund, anlässlich des Erscheinens der Theorie des kommunikativen Handelns vom ehemaligen Kollegen Habermas gesagt haben. Zwei Jahre später, 1983, legte er einen gewaltigen Abriss von über 2000 Jahren Philosophiegeschichte, bis aufs Äußerste verdichtet, auf 203 Seiten in Der Fortschritt in der Philosophie vor.

Hier führte Haag sein enormes Talent vor, ungeheuer komprimiert, dicht und kondensiert zu schreiben, ohne unverständlich zu werden. Stets stellt er dem Leser alles vor, was dieser wissen muss, um das Buch verstehen zu können. Er bringt das Kunststück fertig, dass er den Leser imstande setzt, ihm folgen zu können; er stellt die komplette Ausrüstung zur Verfügung, die der Leser braucht, um mit ihm auf Reise gehen zu können. Vorkenntnisse sind natürlich immer praktisch, werden aber (fast) nicht benötigt. Wer welche hat, dem werden sie durch die Lektüre in anderem Licht erscheinen, wenn er nicht sogar etwas dazulernen kann.
Er gibt nicht bloß eine Darstellung philosophischer Systeme, nicht bloß eine Nacherzählung dessen, was an ihnen (un-)verständlich ist, sondern er ermöglicht, was sonst kaum einer schafft: den denkenden Nachvollzug mehrerer Jahrhunderte Philosophie. Nicht nur damit ist er ein Glücksfall unter publizierenden Philosophen und untypisch für die Zunft: er ist auch deswegen so gut verstehbar, da seine Darstellung eine kritische ist. Stets sind seine Texte beeindruckend stringent: ein Gedankengang wird in einem gewaltigen Lauf durch die Jahrhunderte der Philosophiegeschichte entwickelt. Ohne Abschweifung und Umweg spricht Haag durch die Kritik philosophischer Lehren und Systeme über das, was ihm Gegenstand ist. Dabei gelingt ihm das schier Unmögliche, in höchstmöglicher räumlicher Beschränkung und Knappheit einen großen gedanklichen Reichtum zu entfalten. „Skrupulös“, so bezeichnete seine ehemalige Lektorin seine Art, wie er Texte abfasst. Wie fein gedrechselt und komponiert seine Bücher sind, das kann man nun wieder nachvollziehen.

Wie alle anderen seiner Bücher war auch Der Fortschritt in der Philosophie längst vergriffen, auch antiquarisch nur schwer erhältlich. Ein neuer und kleiner Verlag hat dieses Buch nicht nur neu aufgelegt, sondern gleich das neue, das bei Suhrkamp viele Jahre lang angekündigt war, herausgebracht. Das neue, Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung, überschneidet sich mit dem alten. Haag gibt dies zu und entschuldigt sich berechtigterweise mit dem Hinweis, dass das neue Buch für sich sonst nicht zu verstehen gewesen wäre.

Haags Thema war und ist in all den Jahren die Bemühungen der Philosophie, die Welt zu erfassen. Seit der Antike beobachtet er das gleiche. Bereits die Kritik des Mythos durch Platon führte zu einer „Vergeistigung“ (15) der Welt. Seitdem wird Natur rücksichtslos unter Begriffliches, Geistiges, wird das Besondere unter das Allgemeine subsumiert; seitdem nimmt Philosophie immer wieder eine folgenreiche Verkehrung vor: wird das den Dingen Gemeinsame zu ihrem konstitutiven Wesen erklärt, werden die Dinge zu „Abbildern ihrer eigenen Imitation“ (13) gemacht. Das Geistige, seien es Ideen, Kategorien oder Begriffe, gilt als Erstes, aus dem alles andere abgeleitet wird. Die Materie sank dem gegenüber zur gestaltlosen Stofflichkeit herab. Haag konstatiert eine Radikalisierung dieses Verfahrens über Aristoteles und den Neuplatonismus bis hin zu Hegel: allesamt Variationen des immerselben Fehlers, des großen Pseudos der Philosophie. Aus dem Nichts soll alles kommen, so fasst Haag die „paradoxe Logik“, „das mystische Konstitutum idealistischer Weltsysteme“ (19f.) zusammen.

Die Widersprüche, in die Philosophie sich damit begab, brachen im Universalienstreit des Mittelalters auf. Indem die mittelalterliche Philosophie die Mängel und Erklärungsnotstände der Metaphysik auffangen, indem sie sie also retten wollte, zersetzte sie sie nur weiter: von der in den Universalien gefassten göttlichen Ordnung des Kosmos blieb nur die begriffliche Ordnung, die mit der Welt an sich nichts zu tun habe, die vielmehr nur auf die abstrahierenden Leistungen des Erkenntnissubjekts zurückzuführen sei. Der Nominalismus, „die erste und grundlegende Weltauffassung der beginnenden Neuzeit“ (30), verflüchtigte das, was bislang als das Allerrealste galt, die Universalien, zu bloßem Schall und setzte an ihre Stelle das Einzelding. Dieser alte Streit, der im Laufe der Jahrhunderte im Bündnis mit den sich von Theologie und Philosophie emanzipierenden Naturwissenschaften die Metaphysik immer mehr zurückdrängte, rumort immer noch. Haag zeichnet nach, wie in den folgenden Jahrhunderten die Philosophie dem Nominalismus willfahrte, auch wo sie ihm in der Konstruktion eines „absoluten Geistes“ entgegensteuern wollte, und im (Neo-)Positivismus (ver-)endete, der die Philosophie schließlich abschafft.

Um dies geht es seit jeher in Haags Schriften. Die Probleme solcher Philosophie sind altbekannt: Chorismos und Methexis. Zum einen klafft zwischen allgemeinen Ideen und Einzeldingen ein Abgrund. Wie hat das Besondere am Allgemeinen teil? Wie kann es das? Wie individuiert sich das Allgemeine? Wie kann es dies? Und wieso sollte es dies überhaupt? Zum anderen ist in den statischen Weltsystemen keine Veränderung denkbar, Fortschritt nicht begrifflich fassbar. Im Buch über den Fortschritt in der Philosophie gab Haag zwei positive Bezugspunkte an, wo Philosophie sich sich selbst widersetzte, bei der „negativen Ontologie“ (Alfred Schmidt) Immanuel Kants und Karl Marx’ (und ihrer Art Synthese, der Philosophie Theodor W. Adornos): man kann sagen, dass es ontisch Gegebenes gibt, aber über es selber können wir positiv nichts aussagen, da wir immer nur ihre Erscheinung (Kant), resp. ihre gesellschaftlich vermittelte Form (Marx) kennen. Diese beiden Ansätze baut er im neuen Buch aus, indem er die Kritik an Philosophie auf die an Naturwissenschaft und Theologie ausweitet.

Auch in der Theologie, sei’s in der protestantischen (Haag bezieht sich auf Bultmann, Tillich, Barth), sei’s der katholischen (Rahner, Küng, Metz, Ratzinger) muss man beobachten, wie Nominalismus und Naturwissenschaft willfahrt und gleichzeitig ausgewichen wird. Die Theologie räumte das Feld der empirischen Welt; ein radikal entmythologisierter und entsubstantialisierter Gott wurde in ein sicheres aber eben auch unerreichbares Jenseits verschoben. Stattdessen versteift man sich auf den Akt des Glaubens. In einer gründlich positivierten Welt erkennt man die Resultate der Naturwissenschaften zwar an, hält ihnen aber ein trotziges „Dennoch“ entgegen. Warum man dies sollte, kann Theologie nicht mehr angeben, weil sie einen objektiv gegebenen Gott längst aufgab. Glauben wird zu einem irrationalen Akt, wo dem Gläubigen kein Gott mehr gegenübertritt. Die Existenz von Religion und Gott wird auf die Entscheidung und Leistung des Gläubigen reduziert und ist damit „selber noch ein Stück unerkannter Mythologie. Zum Götzen gemacht wird in ihm menschliche Subjektivtät“ (67). Die Naturwissenschaften sind vergleichsweise reflektiert. Auch wenn Nominalismus und Positivismus ihre Wegbereiter und Weggefährten waren, so sind sie für die Naturwissenschaften unbrauchbar, da diese eine von sich aus erkennbare Natur rationalen und kohärenten Aufbaus voraussetzt. Aber auch wenn sie im Gegensatz zur Metaphysik um ihre Rolle und ihren Einfluss bei der Formierung ihrer Erkenntnisobjekte wissen (Heisenberg, Weizsäcker), so können sie weder den Gesamtzusammenhang der von ihr isolierten Phänomene und der von ihr erkannten partikulären Gesetze herstellen, noch kümmert sie die Entstehung ihres Gegenstandes. An dieser Stelle sind sie irrational. Nach Haag aber könne exakte Naturerklärung rationale Naturerklärung werden, wenn sie sich ihrem Gegenteil zuwendet: der Metaphysik. Mit der Naturwissenschaft treibt man auf Konsequenzen zu, die ihrem eigenen Anspruch am stärksten zuwiderlaufen. Bei ihr kommt man einer rationalen Metaphysik am nähesten. Hier kann man sehen, wie eine Disziplin, die keine Philosophie sein will, „auf ein philosophisches Denken aufgespannt“ (100) ist, ohne dies zu wissen.
Haag bemüht sich um eine Philosophie jenseits von Nominalismus & Universalismus/Realismus wie Materialismus & Idealismus. Ihnen muss er entkommen, wenn der Nominalismus nur die Konsequenz aus den Fehlern der Metaphysik zog. Er ist die Gegenposition zur Metaphysik, die mit deren Prinzip ernst macht: der Reduktion von Welt auf abstrahierende Bestimmungen. Haags Verhalten zur Metaphysik ist auch kritisch, aber es geht ihm nicht nur um die „Negation des Falschen an ihnen.“ Ihr Wahres müsse inmitten ihres Unwahren erkannt werden, „zur Rettung der richtigen Intention“ (118). Wie aber gelangt man nun von den Naturwissenschaften zu einer rationalen Metaphysik, wie kann die Grenze physikalischer Erkenntnis „legitim“ (99) überschritten werden? Die rational aufgebaute Natur, die die Naturwissenschaft beweist und voraussetzt, weise auf das „Walten einer ‚allmächtigen Vernunft’“ (Max Planck, 100) hin. So gelangt Haag „in logischer Strenge“ (115) zu Gott. Über diese allmächtige Vernunft könne inhaltlich nichts gesagt werden. Dies ist Haags „negative Theologie“ resp. „negative Metaphysik“: man muss einen Gott annehmen, man muss von einer Metaphysik ausgehen, aber über diese kann man positiv keine Aussagen treffen. Man kann „lediglich zeigen, daß die Annahme einer allmächtigen Vernunft unerläßlich ist für eine rationale Weltauffassung. […] Kritisch denkend muß menschlicher Geist auf inhaltliche Aussagen über das Sein und Wirken der Gottheit prinzipiell verzichten“ (111).

Das Ziel von Haags Bemühungen mag verblüffen. Eine kritische Philosophie ist sowohl den auf Gott aufbauenden philosophischen Systemen wie der Theologie gegenüber der bessere Theologe. Indem sie Gott rettet, tritt sie für die Menschen und ihre Welt ein. Die Theologie enttäuscht auch noch den, der Glauben und Wissen zwar ablegte, aber meinte, in ihr – vom Inhalt abgesehen – wenigstens noch ein Residuum zu finden, wo man an absoluter Wahrheit festhält. Aber dazu ist sie auch noch irrational; nicht weil sie an Übersinnliches glaubt, sondern weil sie die Vernünftigkeit dieses Glaubens nicht zu begründen vermag. Ihren Gott hat sie verflüchtigt wie die Syteme pantheistischer Metaphysik. Hier ist Gott „limitiert auf reine Identität“ (29) und im selben Zug die Welt darauf reduziert, nichts als ein Modus göttlicher Existenz zu sein. Aber von was für einer: „Zum völlig unpersönlichen Identitätssystem geworden“ (47), in das „nichts eindringen kann, ist Gott […] nicht von sich aus ein unergründliches Geheimnis, sondern nur ein Mysterium durch ein menschliches Denken, das von der Welt und seinen eigenen Leistungen abstrahiert“ (86).
Freilich ist auch der Gott, den Haag zurückbehält, merkwürdig leer; er ist ein „Gott ohne Eigenschaften“ (Erich Heintel). Gerade in Bezug auf die Denk- und Sagbarkeit Gottes, auf die von Haag behauptete Inkompatibilität von Gott und Denken, wäre eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Hegel interessant und fruchtbar gewesen. Aber dessen Philosophie legt er in alter Feindschaft als ärgste Form von Pantheismus und Identitätsphilosophie – als hätte Hegel nicht beides (teilweise mit den gleichen Argumenten wie Haag) selbst kritisiert – stets sofort zur Seite.

Die Versöhnung des scheinbaren Widerspruchs von Metaphysik und rationaler Welterklärung hat bei Haag auch eine politische Dimension: er möchte der „nihilistischen Aushöhlung“ (113) durch den Nominalismus entgegenwirken. Das nachzuweisen, „was die Menschen zu einem sinnvollen Dasein brauchen“ (116), das meint nicht das „metaphysische Winterhilfswerk“ (Adorno), in einer angeblich entsäkularisierten Welt Gott aus Pragmatismus als drohende moralische Instanz und als Sinnstiftungsangebot wiedereinzuführen, um die Menschen brav und ruhig zu halten. Der Nihilismus des nominalistischen Denkens, das ist der „theoretische Kampf gegen die Wesenheiten in den Individuen.“ Ist er erfolgreich, so geht auch verloren, „daß ihre Existenz an Solidarität gemahnt“ (8). Das Denken, das sich selbst als aufklärerisch (miss-)versteht und die Menschen aus ideologischer Befangenheit befreien will, indem es ‚Substanzen-’ und ‚Wesenslehren’ dekonstruiert, macht nicht nur das Unwesen der herrschenden Verhältnisse unerkennbar (worüber Haag nicht spricht), es hat auch darin seine Dialektik der Aufklärung, indem es die Menschen zu Stückgut für Herrschaft isoliert.

Karl-Heinz Haag: Der Fortschritt in der Philosophie
Humanities online, Frankfurt/M 2005
ISBN 3-934157-40-8
218 Seiten, Euro 20,00, Euro 18,00 (als text- und seitenidentischer Download unter www.humanities-online.de für Euro 10,00)

Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung
Humanities online, Frankfurt/M 2005
ISBN 3-934157-39-4
120 Seiten, Euro 18,00 (als text- und seitenidentischer Download unter www.humanities-online.de für Euro 9,00)

Literatur:
Horkheimer, Max. Gesammelte Schriften. Hgg.v. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt/M: Fischer, 1988ff.
Liebrucks, Bruno. Sprache und Bewußtsein. Neun Bücher in sieben Bänden. Frankfurt/M: Akademische Verlagsanstalt, 1964ff., resp. Frankfurt/M – Bern: Peter Lang, 1974ff.
Band 5: Die zweite Revolution der Denkungsart. Hegel: Phänomenologie des Geistes. (1970)


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Peter Kern

Denkmanufaktur vom Feinsten: Karl Heinz Haag

Wo sein Elternhaus steht und er sein Leben lang wohnte, ist Hoechst nicht gerade am schönsten. In der Ausfallstraße Richtung Autobahn war die türkische Community seine Nachbarschaft und seine Mieter, zu Kleinhändlern gewordene ehemalige Rotfabriker. Der Name spielt auf einen chemischen Herstellungsprozess an, nicht auf die politische Haltung der ehemals bei den Farbwerke Hoechst Beschäftigten. Die Farbwerke sind längst abgewickelt und die nahe Hoechst gelegene Frankfurter Schule ist es auch.

Karl Heinz Haag sollte sie fortführen, so Max Horkheimers Vorstellung. In dem bald zugänglichen, dem Archiv der Frankfurter Universitätsbibliothek neulich übergebenen Unterlagen kann man das nachlesen. Von Haag erwartete sich Horkheimer eine metaphysische Grundlegung der Kritischen Theorie. Für ihn war er auch der Nachfolger auf dem Lehrstuhl Adornos. Dann kam es ganz anders. Haag zog seine Bewerbung zurück, ja er zog sich aus der Universität zurück, um sich künftig ganz der philosophischen Forschung zu widmen. Habermas hatte die Laudatio zur Inauguration umsonst geschrieben. Schon einmal ging die Annäherung zwischen der Akademie und dem Dr. habil. schief. Der Lehrstuhl von Karl Jaspers blieb ihm versagt, nachdem das philosophische Seminar der Baseler Universität zarte Fühler nach ihm ausgestreckt hatte. Haag und die Existentialphilosophie, das passte wahrlich nicht zusammen.

Wer war dieser in 1924 geborene Mann, der bei den Jesuiten der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Frankfurt-Sachsenhausen studierte, den Horkheimer an sein Institut für Sozialforschung holte, dem Adorno seine Drei Studien zu Hegel widmete, der den linken Studentinnen und Studenten als einer der Ihren und als geschätzter Lehrer galt? Bei ihm trauten sie sich nachzufragen, was bei den Gründungsvätern der Kritischen Theorie nicht allzu oft der Fall war. Mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund war Haag sich einig in der Ablehnung der Ende der 60er Jahre verabschiedeten technokratischen Hochschulreform. Deren Wirkung auf die akademische Forschung schätzte er als verheerend ein. Er sah sich als einen sehr langsamen akademischen Arbeiter, den die nun abverlangten Pflichten eines Hochschullehrers überfordert hätten. Folgerichtig schlug er die universitäre Laufbahn aus. Sein ererbtes elterliches Haus mit den Mieteinnahmen zweier Parteien sollte ihm eine unabhängige Existenz garantieren. Für den Fall, dass er einmal in Not geriete, bot ihm der greise Horkheimer finanzielle Hilfe an. Haag machte von diesem Angebot keinen Gebrauch. Ein am Rand des Existenzminiums geführtes Leben war der Preis für sein Werk. In seinem ersten Leben, noch an der Uni lehrend, war er tolerant noch der schrägsten Wortmeldung gegenüber. Seine Redewendungen Das können Sie so nicht sagen behielt er in seinem zweiten Leben bei. Nun war der Satz an seine wenigen Freundinnen und Freunde gerichtet, mit denen er gerne durch den Taunus streifte. Karl Heinz Haag starb 2011. Der erste Nachruf war ihm zehn Jahre später vergönnt. Da hat einer eine Flaschenpost hinterlassen, von deren Existenz kaum jemand Kenntnis nahm.

Die Farbwerke und die Philosophie.

Eine in der Philosophiegeschichte verhandelte Streitfrage: Wenn es zur Herstellung der Farbe Rot keine Krapp-Pflanze mehr braucht, weil die Farbsegmente sich synthetisch herstellen lassen, ist es dann mit Kants Ding an sich vorbei? Was nach einer Spezialfrage für philosophisch Eingeweihte klingt, ist von eminenter Bedeutung. Denn an der Beantwortung der Frage hängt der Herrschaftsanspruch der Gesellschaft über die Natur. Wenn diese als wesenlos gilt, als mit den Mitteln der Naturwissenschaften völlig zu entschlüsseln, ist der Machtanspruch nicht zu begrenzen. Es kann dann zweckmäßig sein, den Ausstoß der Kohlendioxide zu vermindern, wenn kein Nützlichkeitsargument dagegenspricht. Es kann dann angesichts der Weltbevölkerung geboten sein, nicht noch zusätzlich Menschen zu klonen. Aber ein prinzipielles Ge- oder Verbot lässt sich daraus nicht ableiten. Woher soll das Wahrheitskriterium kommen?

Von einer Metaphysik, die die Natur als wesenhaft denkt, so Haag. Seine beiden Bücher, die er nach dem Rückzug aus der Universität geschrieben hat (Der Fortschritt in der Philosophie und Metaphysik als Forderung einer rationalen Weltauffassung) führen den Begriff des Wesens nicht gewaltstreichartig ein. Er gewinnt ihn, indem er in einem Kant’schen Verfahren eine Kritik der naturwissenschaftlichen Vernunft schreibt. Was vermag sie; wo liegt ihre Grenze? Haag hat sich auf die Logik Naturgesetze formulierender Wissenschaften eingelassen wie kein anderer Frankfurter Theoretiker. Erstaunliches fördert er dabei zutage. Naturwissenschaftliche Theoriebildung setzt einen metaphysischen Rahmen voraus. Er ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit naturwissenschaftlicher Gesetze. Ihre eigene Methodik reflektierenden Naturwissenschaftlern war dies durchaus bewusst. Haag verweist auf W. Heisenberg oder auf C. F. von Weizäcker.

Haag schreibt über den Erkenntnisprozess der Wissenschaften gleichsam von innen heraus, nicht wie ein Blinder, der über die Farbe spricht. An der Entstehung einer Pflanze, des Färberkrapp beispielsweise, sind viele gesetzmäßig zu fassende Naturprozesse beteiligt. Die Photosynthese regiert nur einen Teilprozess des Pflanzenwachstums; damit eine Pflanze erzeugt wird, braucht es mehrere solcher, von Naturgesetzen regierte Prozesse. Chemische, stickstoffbasierte Reaktionen starten das Keimen des Samenrhizoms, das erzeugte Blattgrün absorbiert das Sonnenlicht, der als Sog wirkende Unterdruck im Pflanzeninneren zieht, entgegen der Schwerkraft, das die Pflanze versorgende Grundwasser nach oben. Wird die Krappwurzel gemahlen und dem Sonnenlicht ausgesetzt, entsteht das Alizarin, das bis zum Mittelalter bewährte Mittel, um die Baumwolle rot zu färben. Jedes der beteiligten Naturgesetze klärt uns über einen separierten Teilprozess auf und lässt sich durch ein Experiment bestätigen. Alle Einzelprozesse müssen zweckmäßig zusammenwirken, damit ein Naturding entsteht. Die Naturgesetze, denen die chemischen, zellbiologischen, genetischen Prozesse gehorchen, sind notwendige Mittel der Erzeugung des Pflanzenkörpers, aber sie sind nicht das Ganze. Es braucht ein Prinzip, das sie auf ein Ganzes hin anordnet.

Das zweckmäßig anordnende Prinzip lässt sich nicht selbst als ein Naturgesetz fixieren, und per Experiment demonstrieren. Es gehört einer physikalisch nicht zugänglichen Dimension der Natur an. Von ihr kann Metaphysik nur sagen, sie sei zwar empirisch nicht fassbar, aber ohne diese Dimension Natur zu denken, sei unvernünftig, irrational. Kant, auf den sich Haag hier natürlich bezieht, hat diese Schicht das Ding an sich genannt. Haag nennt sie das „metaphysische Fundament des Zusammenhangs von Mittel und Zweck.“

Naturwissenschaften könnten keine Gesetzmäßigkeit fixieren, wenn ihre Gegenstände ungeordnet wären. Wäre die Natur nur ein Chaos zerstreuter Einzeldinge, wäre sie nicht nach Arten und Gattungen gegliedert, ließe sich über sie keine experimentell beweisbaren Aussagen treffen. Die Genese einer Pflanze verliefe einmal so, einmal anders. Naturgesetze, die identische Abläufe für denselben Art- und Gattungszusammenhang formulieren, wären unmöglich.

Aus diesem Gedanken zieht Haag einen weiteren, seine Metaphysik stützenden Schluss. Die Klassifikation der Natur, der Gattungsbegriff Pflanze (unbewegliche, der Photosynthese unterworfene Lebewesen) beispielsweise, ist begrifflicher Art. Die Pflanze lässt sich nicht schmecken, riechen, ertasten und sehen, wie ehemals der Krapp in den Wingerten der Vorderpfalz. Aber das Wort kann nicht nur ein subjektives Zeichen sein. In den Einzeldingen, auf der Objektseite, gibt es etwas, das das Ordnen in Gattung und Art erlaubt, und woran menschliche Erkenntnis und Sprache sich halten können. Die Einzeldinge partizipieren, so Haag unter Verwendung des klassischen Begriffs, an ihrem Wesen.

Kann aber etwas Sein beanspruchen, dem alle sinnlichen Qualitäten abgehen? Keinesfalls, sagt eine die Naturwissenschaften zur Philosophie aufspreizende Philosophie, und der Alltagsverstand stimmt ihr wohl zu. Nur was per Experiment, Beobachtung und Falsifizierung, mit den üblichen naturwissenschaftlichen Verfahren also, dingfest zu machen ist, gilt als etwas Reales. Haag hält dagegen. Schon eine begriffliche Klassifizierung, gar die Naturgesetze, wären auf der Basis von Einzeldingen gar nicht möglich. Diese selbst weisen eine Ordnung – in der Sprache der Philosophie eine Ontologie – auf, nur diese macht sie wissenschaftlich erforschbar.

Was als abgetanes Problem der spätmittelalterlichen Philosophie in ihrer Auseinandersetzung mit der modernen, die Naturwissenschaften verabsolutierenden Philosophie gilt, taucht, weil unerledigt, wieder auf. Der Begriff des Wesens lässt sich nicht abtun, wahr ist nicht nur das in wissenschaftlichen Aussagen Fassbare. Das Allgemeine ist existent, auch wenn kein Experiment es erweisen kann. Natur ist nicht identisch mit dem, was wissenschaftliche Forschung über sie ausmacht.

Das Gesetz der Photosynthese bringt die Pflanze nicht hervor. Die wissenschaftliche Methode erschließt mit ihren Experimenten nicht, was die Natur in ihren Schaffensakten leitet. Auch die Gentechnologie, die Haag noch gar nicht vor Augen hatte, ändert daran nichts. Sie reproduziert, was sie vorfindet, sie produziert es nicht. Der Eingriff in die genetische Keimbahn setzt die menschliche Zelle voraus. Wird menschliche Natur wie alle Natur aber als wesenlos gedacht, ist ihrer völligen Verfügbarkeit keine Grenzen gesetzt.

Brandschatzung der Natur

Haag maßt sich kein omnipotentes Wissen an (Wie Heidegger, den er in seiner Habilitation scharf kritisiert). Worin jedes Naturding sein Wesen hat, das es seiner Gattung und Art zuordnet und zugleich als Individuelles entstehen lässt, bleibt menschlicher Erkenntnis verschlossen. Haags Metaphysik ist eine negative, sie wiederbelebt nicht die sich von Platon fortschreibende Ontologie. Deren Grundirrtum sieht er darin, die empirische Welt aus einer Hierarchie der Ideen hervorgehen zu lassen. Was sich dem abstrahierenden menschlichen Verstand verdankt, kann nicht zum Wesen der Einzeldinge erklärt werden. Der real existierende, nur noch in Vorderasien vorkommende Krapp ist nicht bloß der Schatten einer Idee.

Die Selbstgenügsamkeit innerakademischer Debatten war Haags Sache nicht; das verbindet ihn mit der Kritischen Theorie. Er zielt auf eine Veränderung der Gesellschaft. Er zeigt, wie sehr eine als wesenlos ausgegebene Natur Passform aufweist für eine Ökonomie, die die äußere und die menschliche Natur als bloßen Rohstoff der Kapitalverwertung ausgibt. Sie sei zur „Brandschatzung“ freigegeben. Natur als wesenhaft zu begreifen, ist für ihn „von höchster Wichtigkeit nicht nur für das Schicksal der Philosophie, sondern hat intensivste Bedeutung…für das Schicksal der Menschheit“.

Haag spricht von seiner negativen Metaphysik, denn er bleibt das Positive schuldig. Er weiß, Naturwissenschaften bieten eine relative Erkenntnis ihres Gegenstands, keine absolute. Und eine überhistorische, ewige, das Wesen der Natur wiedergebende Philosophie reimt sich auf Scharlatanerie. Haag intendiert keine Wesensschau. Auch das Dogma eines Hegelmarxismus ist ihm fremd. Natur wird mit menschlicher Praxis partiell erschlossen; aber diese von den Naturwissenschaften angeleitete Praxis produziert die Naturgegenstände nicht.

Die Natur an sich lässt sich nicht affirmativ bestimmen. Nachmetaphysisches Denken folgert daraus: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Haag zieht daraus einen theologischen Schluss. Dieser Schluss mag der Grund gewesen sein, warum seine beiden Bücher kaum mehr rezipiert wurden. Theologie gilt, laut Benjamin, als hässlicher Zwerg, der sich nicht blicken lassen darf. Die Sache riecht irgendwie schlecht. Gott hängt nun das Attribut des Teufels an, der bekanntlich am Schwefelgeruch zu erkennen ist. Haag hat da keine Berührungsängste. Ist seine Konsequenz aber von der Logik seiner Gedankenführung gedeckt? Er behauptet nicht weniger als „daß es einen Gott gibt. Diese Gewissheit ist erreichbar – in logischer Strenge.“ Das Prinzip, das die nach ihren Gesetzmäßigkeiten verlaufenden Naturprozesse so organisiert, dass jeweils ein zweckmäßiges Naturgebilde entsteht und in ihrem Zusammenwirken ein geordnetes Universum, kann, so Haag, nur ein göttliches, allmächtiges sein.

Wenn ein solches determinierendes Prinzip ausgeschlossen ist, bleibt als logische Alternative Indeterminismus, also der Zufall. Der das Universum in seinem Werden und seiner Fortdauer verursachende Zufall hat seit geraumer Zeit eine gute Presse. Haag weist dieser Presse Denkfehler nach. Sich auf rein physikalisch Fassbares bei der Naturauffassung zu beschränken, spricht dem Zufall eine unglaubliche Bedeutung zu. Er nimmt, so Haag, dann gleichsam selbst die Stelle Gottes ein.

Haag rehabilitiert Theologie, indem er zeigt, dass für das Sein und das Werden konkreter Naturdinge naturwissenschaftliche Welterklärung nicht hinreicht. Er gibt nicht vor, der von ihm als allmächtig bezeichneten göttlichen Vernunft in die Karten zu schauen. Seine Denkbewegung negiert, was ein Alltagsatheismus sich einredet: Anorganische, rohe, dabei energiereiche Materie, die sich einmal Knall auf Fall bewegt hat, konstituiert aus sich selbst heraus lebendige Organismen, die per Versuch und Irrtum die Evolution in Gang bringen; dann entwickelt sich noch die Krone der Schöpfung und unser Bewusstsein von der ganzen Geschichte.

Nachdruck aus Faustkultur, 2022

Sebastian Schreull

Beinahe eine Theologie kritischer Theorie

Zur Aufsatzsammlung „Kritische Philosophie“

Es ereignet sich in letzter Zeit häufiger, dass ein kritischer Theoretiker wieder publik wird, dessen Werk noch nicht in den offiziellen Genealogien der „Frankfurter Schule“ verzeichnet oder durchdrungen wurde. Dem Autor der Rezension kommt da freilich Heinz Maus als erstes in den Sinn; im Wesentlichen ein Marburger Soziologe, der nicht ins Exil ging, sondern Widerstand leistete und trotz Zensur kritische Theorie publizierte („Kritik am Justemilieu“). Ihm wurde unlängst ein im Westfälischen Dampfboot erschienener Sammelband gewidmet, Demirovic zeichnet in seinem Werk „Der nonkonformistische Intellektuelle“ seinen Werdegang nach. Oder wir lesen mit Erstaunen die Texte von Kirchheimer und Neumann noch einmal, die in die aktuellen Diskussionen um das Politische und die Gerechtigkeit einwirken könnten – als Kritik der abstrakten Kritik des Rechts oder des rezenten Schmittianismus. Ebenso sind die Neuveröffentlichung der Schriften von Heinz Langerhans anregend, der Anfang der 1930er-Jahre zeitweise Max Horkheimer am Institut für Sozialforschung assistierte und eine vielleicht konträre Analyse des Nazifaschismus zu Neumann explizierte. Diese soll laut den Herausgebern seiner Schriften eine gewisse Vorausnahme der Adorno’schen „Reflexionen zur Klassentheorie“ darstellen. Eine liasion dangereuse von Adorno und Korsch, Langerhans Lehrer?

Ein besonderes Verdienst in der Erinnerung an diese – nicht bloß – SchülerInnen kritischer Theorie kommt dabei der Reihe „Dialektische Studien“ zu, die bei edition text + kritik erschien. Tiedemann zeichnete sich verantwortlich für die Herausgabe der Reihe. Diese macht Werke einer Öffentlichkeit zugänglich, die entweder als Dissertationen bei Adorno oder Horkheimer angefertigt wurden oder die sich als Erbe Kritischer Theorie behaupten. Tiedemanns Reihe ist daher politisch: Sie will eine andere Kritische Theorie lesbar machen, die nicht der Kritik der Habermas’schen Diskursethik verfällt, aber auch der ‚Aufweichung’ des Kanons durch neue, andere Philosopheme begegnen will. Der Herausgeber ist daher um eine gewisse Lesart Kritischer Theorie bemüht.

Umso erstaunlicher ist es, dass die in dieser Reihe veröffentlichten Texte zu Tiedemanns Bestimmungen Kritischer Theorie durchwegs heterogen sind. Tiedemann sagt zu dieser Reihe, dass „[d]ie ‚Dialektischen Studien‘ versuchen, für die Kritische Theorie einzustehen, die die Selbstkritik des Denkens nicht mit seiner Abschaffung verwechselt“. Dies ist natürlich auch als Anweisung zu verstehen, wie Adorno, Horkheimer, also die Kritische Theorie zu lesen sei. Die Gefahr besteht nur darin, dass man die Originalität der in den „Dialektischen Studien“ publizierten Werke missachtet und für die Abschaffung des Denkens eine gewisse Unreinheit in der Tradierung Kritischer Theorie verantwortlich macht, dass es also gelte, diese SchülerInnen als wahre Erben zu lesen, die getreu das Erbe Adornos oder Horkheimers ‚sicherten‘? Tiedemann wendete sich explizit gegen postmoderne oder andere scheinbar beliebig verfahrende Aneignungen. Er macht sich für ein bestimmtes Modell des Philosophierens stark, was er aus der Adorno’schen Philosophie ableitete. Die Frage dürfte also lauten, wie und ob eine solche Abschaffung des Denkens auch dort vorliegt, wo eine Einheit Kritischer Theorie die Unterschiedenheit der Theoretiker und ihrer Vollzüge verdrängt.

Karl-Heinz Haags Band bildet den Abschluss der Reihe „Dialektische Studien“. Auch der Herausgeber Tiedemann hebt dies hervor, sei doch „diese Sammlung der vorbereitenden Arbeiten Haags zu seiner Negativen Metaphysik“ schließlich den ‚Imperativen‘ Kritischer Theorie verpflichtet, „nach der Grundlage ‚für ein wahrhaft intellektuelles und gesittetes Leben der Menschen’ zu fragen“. Tiedemann markiert es aber in seiner den Band von Haag abschließenden „Notiz des Herausgebers“ deutlich: „Als Leser war dabei vorab, wenn auch nicht ausschließlich, an jenen ‚eingebildeten Zeugen‘ gedacht, ‚dem wir es‘ – mit dem Wort Horkheimers – ‚hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht‘“.

Bedeutet dies nun, dass Haag ein bloßer Zeuge des Erbes von Horkheimer et al. ist oder dass Haag selbst ein Erbe verkörpert, was nicht untergehen darf? Dies sind keine Spitzfindigkeiten, sondern es ist entscheidend: Tiedemann kritisiert an der im Sammelband abgedruckten Dissertation Haags, dass sie „die Nähe zur Ontologie Heideggers und mehr noch der Neuscholastik nicht verleugnen kann“, auch wenn er dies auf die Form der Arbeit beschränkt wissen will. Erwähnung findet dort auch, dass Haag zu Lebzeiten „glaubte, seine alte Arbeit nicht mehr vertreten zu können“ – darum erschien auch die Aufsatzsammlung „Kritische Philosophie“ posthum. Sie versammelt schließlich sein Frühwerk. Haag kritisiert nämlich, so argumentiert das kontextualisierende Nachwort Günther Menschings, dass „die theoretischen Entwürfe“ seiner „Lehrer und Freunde“, Adorno und Horkheimer, „wenngleich in der Absicht richtig, so doch nicht zureichend begründet seien“. Und Haags Spätwerk ist darin konsequent: Es argumentiert, so könnte man urteilen, den kantianischen Zug des Adorno’schen Werks zu einem gewissen Ende. Ob es das Ende der Unbegründetheit und damit die Aufhebung kritischer Theorie ist, diese Behauptungen Haags wären zu untersuchen.

Solche Differenzen in gewissen Tradierungen Kritischer Theorie können leicht verschwiegen werden. Und selbst wenn dies aus politisch-strategischen Gründen getan wird, dann gefährdet man genau damit die Einheit der Kritischen Theorie, die nur in ihrer stetigen Aktualisierung, in ihrer Differenz zu haben ist. Sonst wäre sie ja bloß die Wiederholung des Immergleichen – ihre Wahrheit soll aber eine historische sein.

Diese Differenzen begründen sich nach Mensching auf Haag bezogen damit, dass „Adornos Hegelkritik […] durch die hartnäckige Insistenz Haags überhaupt erst so geschärft worden, wie sie in der ‚Negativen Dialektik‘ formuliert ist“. Denn wesentlich war für Adorno in den 1950er-Jahren, dass die „Logik zum Sprechen“ zu bringen ist, dass eine Rekonstruktion der „Wissenschaft der Logik“ Hegels endlich in Angriff genommen wird. Adorno wusste um ihre Bedeutsamkeit für die Kritik der politischen Ökonomie, aber auch im Wesentlichen für die Formulierung seiner Dialektik. Adorno bezog sich in seinen bis dahin geschriebenen Werken eher auf die Rechtsphilosophie oder die Phänomenologie Hegels. Damit ist ein Spätwerk ausstehend.

Dass Adorno umfangreich an einer Erschließung der Hegel’schen Logik arbeitete, ist nicht zuletzt durch die Briefwechsel belegt, aber auch in seinem „Beethoven“-Buch angefangen – was allerdings Fragment blieb. Interessant ist hier zudem, dass Adorno andere für eine Rekonstruktion der Hegel’schen Logik verpflichtete oder verpflichten wollte: Bruno Liebrucks wurde 1959 nach Frankfurt geholt, um mit seiner sprachphilosophischen Lesart Hegels das Problem von Sprache und Bewusstsein als logisches zu reformulieren [und kam durch Adorno mit der Benjamin’schen (Sprach-)Philosophie in Berührung – die er ohne Markierung zitierte]. Josef König aus Göttingen wollte nicht nach Frankfurt wechseln, den Adorno aber dafür schätzte, dass er mit der Unterscheidung von theoretischen und praktischen Sätzen Hegels „übergreifendes Allgemeines“ gesellschaftstheoretisch explizieren konnte. Ob sich durch den Einfluss Königs die Fokussierung Adornos auf sprachphilosophische Probleme ab der Vorlesung zur „Ontologie und Dialektik“ ergeben hat, wäre zu erforschen. Tiedemann behauptete diese Vorlesung zumindest als Anfangen am Werk der „Negativen Dialektik“.

Und Haag war ein katholisch gebildeter Intellektueller in Frankfurt, der von den „realen Widersprüchen“ der Philosophie Thomas von Aquins kam, der die res essentia, das Wesen des Gegenstandes, nicht bloß aus einem Wesen des Wesens ableitete, sondern eine Verhältnisbestimmung als essentia singularis oder die Singularität des Wesens als Verhältnis von Sein und Seiendem denkt. Und Haag interessierte sich für Hegel.

Und Haag wusste eben nicht nur um die Heidegger’sche ‚Fundamentalontologie‘, sondern auch um die Kritiken der Neuscholastik innerhalb der damals aktuellen Ontologie. Haag eignet sich die Kritik Petrus Aureolis‘ an, die den „Universalienabsolutismus“ einer nur das Sein setzenden Ontologie bestimmt negiert, da diese Unterscheidung von Sein und Seiendem, von „Singulären und Allgemeinen nur im denkenden Subjekt bestehe“. In Haags „Kritik der neueren Ontologie“, dem eröffnenden Beitrag des Bandes, wird dargestellt, wie der mittelalterliche Universalienstreit eigentlich nur von Hegel aufgehoben wurde. Hegel denke in den Extremen des Nominalismus und Realismus, indem er deren Setzungen in der Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt als Geist vollziehe. Hegels absoluter Geist als historischer Vollzug könne nur „als Produkt der Kultur der Völker in ihrer geschichtlichen Auseinandersetzung“ begriffen werden, als etwas durch und in dem ich mich selbst erst als gesellschaftliches Verhältnis begreife.

Den Ausweg der Ontologie aus der Subjektphilosophie durch eine Daseinsanalyse oder Bestimmung der Lebenswelt ist für Haag als Anfang denkbar und kritikabel zugleich, weil es Seiendes nicht selbst als Verhältnis von Begriff und Gegenstand denkt. In seinem späteren Aufsatz „Zur Lehre vom Sein in der modernen Philosophie“ sind es unter anderem die Theologie Tillichs, bei dem Adorno 1931 habilitierte, und alle Formen der Existentialontologie, auch der Sartres, die er kritisiert, um mit Nink zu begründen, dass selbst die Heidegger’sche Ontologie letztlich, wenn „Sein und Seiendes unmittelbar als Grund und Begründetes gefasst werden, auf bloße Tautologie hinausläuft“.

Das zumindest innerhalb der katholischen Ontologie Kritik an Heidegger oder dem Neuthomismus expliziert wurde, dass sich an Hegel’sche Figuren angenähert wurde, dies stellt Haag überhaupt einmal dar. Er weiß um die Metaphysik Casper Ninks, dass die „inneren Seinsgründe einer Sache nicht als solche, getrennt voneinander existieren, sondern daß sie nur in der sie umgreifenden Einheit der Sache sind“. Die Frage, was hier also als Über- oder Umgreifendes, als Medium oder Drittes bestimmt werden könnte, zieht sich durch das Haag’sche Werk.

Haag versucht damit etwas zu bestimmen, was wesentliches Motiv der „Negativen Dialektik“ und der „Ästhetischen Theorie“ ist. Ob Adorno selbst an der logisch-begrifflichen Bestimmung scheiterte, ob deshalb das Beethoven-Buch unvollendet blieb, oder ob er es über die Reflexion der Form oder die Darstellung der Reflexion fassen wollte, dies wäre wichtig für die Beurteilung des Haag’schen Spätwerks. Denn im Gegensatz zu Haag begreift Adorno dieses Problem als ein wesentlich sprach-philosophisches. Während Adorno Heidegger am prägnantesten in „Ontologie und Dialektik“ an seinem Sprach-Begriff kritisiert, folgt Haag eher den Ansatzpunkten der Kritik aus dem Heidegger-Kapitel der „Negativen Dialektik“, die die Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt ausführlich als Manko der Heidegger’schen Überlegungen explizieren. Unterbietet Haag deshalb Adornos sprachphilosophische Aussagen?

Haag versucht zwar in einzelnen Passagen der „Kritischen Philosophie“ an Adornos Aussagen zur Sprache anzuknüpfen, die eine Kritik der Sprache als bloßes Zeichensystem vollziehen. Dass Haag mit Adornos Sprachphilosophie vertraut war, demonstriert „Das Unwiederholbare“. Haag setzt dort ein, wo auch Benjamin ein Problem mit der analytischen Sprachphilosophie eines Bertram Russell hatte: nämlich an den singulären Termen beziehungsweise dem Namensproblem. So weiß man dadurch, dass Haag mit den Gegenständen des Adorno’schen Philosophierens vertraut war, aber dennoch einer Reflexion des Sprechens, nicht der Sprache, auswich.

Es ist auch für ein an Adornos Philosophieren ‚geschultes‘ Denken nicht unüblich, dass die jüdische Namenslosigkeit Gottes zum Gegenstand dieser Überlegungen wird: „Das Unwiederholbare stellt sich dar als das eine Besondere, das keinem Allgemeinen subsumierbar ist, oder vielmehr als das, was entschwindet, wenn es unters Allgemeine befasst wird. Noch weniger ist die Einzigkeit von Dingen unabhängig von ihrer begrifflichen Fixierung.“ Es ist auch überhaupt nicht zufällig, dass Haag letztlich auf Beethovens Musik zu sprechen kommt, die den „intensivste[n] Versuch“ darstelle, „Unwiederholbares zu wiederholen“ – so „vermag er das nur zu beschwören, was Ich und Natur in der Entfremdung verloren“. Und da Haag hier insofern Hegelianer ist, als er Entfremdung nicht als ‚Schlechtes‘ denkt, sondern als Moment eines Prozesses, der etwas erst als etwas begreifen lässt, so ist damit der absolute Geist selbst als Moment, als in sich historisches gefasst. Dass nun Haag aber so auf Adornos Kritik an Hegel einschwenkt, könnte vielleicht daran liegen, dass sie eher dem hegemonialen Hegelianismus galt, als Hegel selbst?

Haags Nähe zur Ontologie, auch die zu ihren neu- oder scholastischen Theoretikern, war für Adorno gewiss kein Makel, sondern ein Versuch, die Formen der Subjektphilosophie zu kritisieren, die eben die Verhältnisbestimmung zur Substanz, zum Gegenstand nicht leisten können – die sich selbst verdinglichen, indem sie das Subjekt (gerade wenn sie diesen Begriff nicht länger gebrauchen) auf eine Form bringen, die alle seine Vorstellungen begleiten muss (will ‚Subjekt‘ nicht seinsvergessen sein). Adorno wurde dieses Problem an seinen Husserl- und Heideggerstudien evident, Haag stößt auf dieses Problem in der Neuscholastik, die ihren Subjektivismus verdrängt. Von dieser her kommend liest er in Frankfurt Hegel, in Sitzungen mit Adorno und Horkheimer.

Die bei Horkheimer angefertigte Dissertation „Seinsdialektik bei Hegel und in der scholastischen Philosophie“ ist vollständig im Band abgedruckt. Sie ist Haags erstes Werk und ist im Gegensatz zu allen anderen Schriften noch nicht so vom „Geist“ der Kritischen Theorie durchdrungen. In ihr demonstriert der von einer zeitgenössischen ontologischen Diskussion und Terminologie herkommende Autor, dass das übergreifende Allgemeine nur als Einheit zu denken ist: „Nur die Einheit in der Unterschiedenheit von Grund und Begründetem, Vermittlung und Unmittelbarkeit [ist] schlechthin ‚unbedingt‘ zu nennen“. Haag kritisiert damit nicht nur die Annahme von transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit, sondern auch einen Heidegger’schen ‚Seinsbegriff‘, als Quasi-Erstes der Philosophie.

„Kritische Philosophie“ bietet so eine gut lesbare Einführung nicht nur in die Kritik ontologischer Begründungsversuche, sondern auch in die Probleme des Universalienstreits. Ähnlich wie Adorno in seiner „Metaphysik“-Vorlesung konstelliert er in „Kritik der neueren Ontologie“ Nominalismus und Realismus. Abweichungen vom Lehrer ergeben sich aber dort, wo es um eine Einschätzung des Philosophierens Aristoteles’ geht. Haag denkt anders als Adorno Aristoteles konsequent als Realisten, der Platons Philosophie aufhebe, aber nur um den Preis, dass er wieder in ähnliche Aporien gerate. Aristoteles denke die Form als identisches, so dass Materie erst durch die Form individuiere, also wirklich sei. Und nicht umsonst war dieser hier erstmals wieder zugänglich gemachte Text, „Das Unwiederholbare“, Adorno zu seinem 60. Geburtstag gewidmet.

Reflektiert Adorno doch darauf, dass dem Sprechen – auch bei Aristoteles und in der Explikation eines angemessenen Begriffes der Metapyhsik – eine besondere systematische Position zuzuordnen ist: Nämlich in dessen Tun solche Positionen erst wirklich sind. Und Haag argumentiert in „Sein und Seiendes in der Fundamentalontologie“ luzide und vielleicht deutlicher als Adorno an mancher Stelle, warum das Vergessen der Reflexion der Form dazu führt, dass für ein so-vergessendes Philosophieren dies „zu ihrem eigenen Inhalt“, zu ihrem wirklichen Problem wird. Haag weiß also um die Hegel’schen Figuren, die dieses Problem des Sprechens betreffen. Und wer einmal in bestimmende Probleme der Hegel’schen Philosophie eingeführt werden will, dem ist Haags Werk unbedingt zu empfehlen. Nur wenige, und selten SchülerInnen Adornos, können so verständlich Hegel ‚übersetzen‘.

Es mag unglücklich oder ambivalent sein, die Werksammlung Haags ausgerechnet „Kritische Philosophie“ zu betiteln: Nicht zuletzt Hegel oder Marx bezeichneten die Kant’sche als kritische Philosophie, als zu Kritisierendes. Vielleicht ein Hinweis vom Herausgeber zur Einschätzung des Haag’schen Werks? Wohl kaum, denn Kant steht im Fokus von Haags Kritik, um seine Hegellektüren vorzubereiten. Der transzendentale Idealismus reduziere nicht nur das Objekt zum Ding an sich, sondern auch das Subjekt: Das „reine Ich denke“ sei einer formalen Logik verpflichtet, die in einer höherstufigen Logik aufgehoben werden müsse: „Diese Entfaltung und nicht die Qualität eines einzelnen Urteils ist die Wahrheit, und deshalb ist alle Philosophie, selbst noch die Geschichtsphilosophie Logik“.

Haag leistet damit etwas Wesentliches für Kritische Theorie: Er stellt dar, dass Hegel selbst nur als Philosoph des Gesellschaftlichen zu lesen ist. Hegel rekonstruiere nicht aktuelle Philosophien, weil sie bloße Abbildungen der wirklichen Bewegung seien, sondern Momente der wirklichen Bewegung selbst.

Dies bereitet er schon in seiner Dissertation vor. Wenn die Widersprüche der Ontologie Heideggers und der Neuscholastik letztlich darauf hinauslaufen, dass „alle Seienden […] essentiell-individuell-existentiell bestimmte Vielheit [sind], und alle unterscheiden sich zugleich im inneren Aufbau ihres vieleinheitlichen Bestimmtseins“, dann sei der „absolute Geist“ Hegels eine angemessenere Entfaltung dieses Problems. Wie Haag nun Hegel in Verhältnis zu Überlegungen Thomas von Aquins setzt, um diese aufzuheben, der kann dadurch eine immanente Kritik all jener neuscholastischen Argumentationen nachvollziehen. Dass Horkheimer und Adorno diese Dissertation goutierten, zeigt auch ihren unorthodoxen Umgang mit anderen Sprachspielen und die Notwendigkeit immanenter Kritik, sich seinem Gegenstand „anzuschmiegen“, ihn in seinen so-gegeben erscheinenden Begriffen zu rekonstruieren, um die Widersprüche dieser Verhältnisse zu bestimmen.

Doch nicht nur die Eiswüste der Metaphysik durchschreitet Haag. Wir verdrängten so einen entscheidenden Zug dieses Philosophierens: Er ist nun einmal ein von Jesuiten ausgebildeter Theologe und Philosoph, der gemäß der damals gelehrten Neuscholastik einen historischen Zugang zur Philosophie wählt. Haags Text „Glaube und Wissen“ mag daher von Hegel oder Marx kommende Leser irritieren: Nicht die in der Tradition kritischer Theorie gepflegten Reflexionen zu diesem ‚Problemkomplex‘ werden geboten, sondern an Bacon, Bruno, Spinoza, an einer Kritik der protestantischen und katholischen Theologie zeigt er, dass der Glaube nicht mehr als Glaube wirklich sei, sondern eine „moderne Theologie“ wisse es: „[B]evor das Ende der Welt die Wahrheit über Gott und Welt enthüllt hat, ist keine ‚Gegebenheit‘ denkbar, die absolut und unveränderlich wäre“. Wenn ich solche Begriffe als wesentliche erachte, bedeutet dies aber letztlich, dass ich am Gottesbegriff festhalte, weil er Problemtitel dafür ist, dass ich Unmittelbarkeit und Vermittlung nur je unmittelbar im Verhältnis als Vermittelte begreife. Aus diesem eminent praktischen Problem der Philosophie kann zweierlei geschlossen werden:

1. Ist so Haag an einem „Messianismus ohne Messias“ (Jacques Derrida) interessiert, der zu einer „absoluten Zukunft“ führe: „zu ‚einem neuen Himmel und einer neuen Erde‘“? Schwach gelesen bliebe Haag so einem Imperativ der Kritischen Theorie treu, dass es letztlich sich in der Praxis vollziehe, was Philosophie, was Kritik sei. In seinem Spätwerk folgt daraus, dass der Hegelianismus der Kritischen Theorie selbst zu kritisieren sei. Adornos Hegelkritik sei nicht ausreichend, sie müsse zu Ende gedacht werden. Jene übergreifende Logik, die Adorno anstrebe und die Hegel nicht geglückt sei, müsse im Verhältnis zu Gott, als Göttliches, gedacht werden, da letztlich auch die Identität von Identität und Nicht-Identität auf das Identische des Nicht-Identischen angewiesen sei, damit es Begreifen sei: „die Annahme einer allmächtigen Vernunft [ist] unerläßlich […] für eine rationale Weltauffassung“.

Und dennoch müsse der menschliche Geist auf positive Aussagen über dieses Wirken der Gottheit verzichten, sei zu einer „Negativen Metaphysik“ gezwungen, die nur durch die Kritik der Identitätsphilosophie Hegels zu leisten sei. Dies ist wahrscheinlich eine überbestimmte Kritik Hegels, der ja doch anders als Haag behauptet, einen naiven Pantheismus kritisiert und das Absolute gerade nicht als Identität postuliert. Und ist nicht genau das, was Benjamin oder Adorno als das Sprechen begreifen, Haags unterbestimmte Position für das Göttliche? Daher ist nicht nur Philosophie vernünftig gewordenen Kritik der Religion, sondern zugleich die bestimmte Negation des Glaubens – Kritik der Religion?

2. Hieran merken wir eine Verschiebung in der Aneignung der Hegel’schen Philosophie bei Haag, die sich bereits in „Kritische Philosophie“ ankündigt. Denn im Unterschied zu seiner Dissertation will er in „Hegels idealistische Dialektik“ erweisen, dass Hegel das Nicht-Identische reduziere, was das Kant’sche „Ding an sich“ noch aufhebe (im Sinne von bewahren). Genau diese Argumentation finden wir in Adornos „Negativer Dialektik“ wieder. Aber indem Haag in dieser Kritik Hegels nicht stehenbleibt, sondern metaphysisch begründen will, weswegen das dem Begriff Entschwindende, in dem sich der Begriff durch es vollziehe, Gott sei, lässt sein Philosophieren ‚metaphysisch‘ klappern. Er ist im Gegensatz zu Adorno nicht nur mit der Metaphysik solidarisch im Augenblick ihres Sturzes, sondern Metaphysik soll letzten Endes die Wirklichkeit der Solidarität begründen. Ist es so, dass Philosophieren ohne Reflexion der Sprache wieder zu einer Form der Ontologie wird, a fortiori zu einem Absoluten, zugleich Sein und Seiendes, nämlich Gott?

Dies sind alles merkwürdige Unstimmigkeiten in der Genealogie Kritischer Theorie, die bis dato kaum bedacht wurden. Es lohnte doch sehr, sich mit den Versuchen jener SchülerInnen Adornos zu beschäftigten, die Kritischer Theorie treu blieben gerade durch eine Kritik ihrer Traditionen – indem sie sich um eine Aktualisierung Kritischer Theorie bemühten. Dies ist weniger philologisch, als vielmehr ein philosophisches Gebot der Stunde. Ob diese Aktualisierungen noch gegenwärtig gelten, müssten genaue Lektüren zeigen. Sie verdeutlichen aber, dass das Erbe Kritischer Theorie umstritten bleibt, nicht sich vereindeutigen lässt. Sie muss sich angeeignet werden.

Karl Heinz Haags „Kritische Philosophie“ ist darum spannend, weil es eine Ahnung davon vermittelt, dass Kritische Theorie nicht in der Habermas’schen Diskursethik, der Honneth’schen Variante des Anerkennungsbegriffes oder einer orthodoxen Auslegung der „frühen“ Kritischen Theorie aufgeht. Haags Werk enthält viele Stellen, die wir kritisch mit aktuellen Formen Kritischer Theorie lesen könnten, gerade die hegelianischen. Es wird hier gezeigt, wie vielfältig in aller Einheit Kritische Theorie ist.

Die von manchen zu sehr affirmierte, von anderen zu schnell verurteilte Vielheit oder Familienähnlichkeit der aber dennoch irgendwie kritisch-theoretischen Denkansätze wäre erst einmal zu bestimmen. Haags Hegelianismus und späterer ‚Anti-Hegelianismus‘ könnten ein solcher Anfang sein. Daran ließe sich zeigen, dass das Erbe Kritischer Theorie keineswegs einheitlich oder linear tradiert wird, sondern viele Umwege, Abbrüche und Abgründe kennt. Gerade die Theologie soll ja ein „Gipfel der Verzweiflung“ für manche DenkerInnen sein. Besonders für die, welche die Theologumena Adornos oder Benjamins für bare Münze genommen haben. An und mit Haag ist dies kritisch zu durchdenken.

Nachdruck aus Literaturkritik 2012